Tor des Geants – das Rennen, das niemals endet!

Die ersten Lauf-„Giganten“ lagerten bereits um 7 Uhr früh vor dem Start, die härtesten noch mit dem Rucksack vom Ultra-Trail du Mont-Blanc. Und wenn die Berge rufen, dann eilen die Freunde herber Trails nicht nur von weit herbei, sondern machen sich auch schön. Ins milde Morgenlicht dieses Open-Airs werden kunstvoll ornamentierte Kompressionsstrümpfe, blank polierte Laufschucherl und jede Menge Tätowierungen ausgetragen. Alberto Lorenzi hatte zu einem geselligen Ultratrail durch das Aostatal gerufen, der - dezibelbedingt - neben Ohrenschmalz auch neue Gedanken zum Lieblingsthema "Ausdauer" versprach, wie er sie kurz vor dem Start auch noch vorträgt:

Der Sechzigjährige empfing dort die "Gäste" zu einer speziellen Audienz. Neben sich hatte er regionale Politiker platziert, die ruhig miterleben sollten, wie es so ist, wenn man tiefschürfend auf Fragen antworten soll wie: "Warum läuft man eine Woche lang 24.000 Meter über und 332km durch hochalpines Gelände?" Die zum Start versammelten Läufer langweilten sich derweil demonstrativ.

Sie sind sich ihrer Pfade sicher. Etwaig aufkommende Subtilitäten werden gleich im Keim erbarmungslos geplättet. Kalkulierte Entrücktheit herumgeworfener Menschen in Dreiviertelhosen und Wursthautleiberln? Nein, keine Sehnsucht nach einer Frau, keine Sehnsucht nach Ruhm und Reichtum, sondern Sehnsucht nach einer gewissen Wesenslosigkeit bewegt sie. Durch das Laufen kann es passieren, dass sie einen kurzen Blick auf die Ewigkeit bekommen. Da ist dann auch die Todesangst weg. Da ist kein Gefühl der Euphorie, des Stolzes oder des Glücks: Es ist ein Moment der Klarheit!

Innerhalb von Sekundenbruchteilen dann der Startschuss. Lorenzi begleitet ihn euphorisch-emotional mit dem Satz: „Abbiamo iniziato la prima giornata della ultima giornata“, was so viel heißt wie etwa „Der erste Tag des letzten Tages hat begonnen“! Die Läufer entlarven sich nun gerne und bereitwillig als Lorenzi’s Beute. Der „March of Pigs“ startet mit eindrucksvollem Geknüppel auf den Col Arp. 473 Extremläufer beginnen sportlich zu wüten.

Infolge Schlafmangels bin ich bereits nach der ersten Nacht bedrohlich aufgeschwemmt, präsentiere mich zumindest aber noch körperlich fit. Durch Müdigkeit, Kälte und Regen bin ich ein anderer geworden. Auch mein Geist ist anders: "Ich realisiere, dass viele meiner Ansichten total beschissen waren, dass ich gefangen war in einem Käfig unreifer Gedanken, die ich noch dazu wie besessen variierte. Vorher war ich einfach beschränkt, jetzt sehe ich, dass es gilt, das Leben mehrdimensional zu begreifen. Wenn ich gerade noch bellte: 'Was für ein unnötiger Schas!', weiß ich jetzt, dass Laufen auch etwas Gutes sein kann.“

Fürwahr, die neue, vielschichtige Erkenntnis geriet extrem gut. Es gibt jetzt für mich drei Arten von Ultratrails: Jene, die der Illusion der ewigen Progression des Extremen huldigen, und jene, die die Idee des Berglaufens auf so viele Genres erweitern, dass nur mehr eine Worthülse bleibt. Die „Tor des Geants“ geht einen dritten Weg:

Ihr Impresario Alberto Lorenzi versammelt dabei mit großer Liebe Trails über fast dreißig Bergpässe (25 davon über 2.000 Meter Höhe, drei davon über 3.000 Meter) rund um Giganten wie Monte Rosa, Mont Blanc, Gran Paradiso und Matterhorn! Dabei ist längs des knapp 333 Kilometer langen Trails kein Aufwand zu groß: Tausendzweihundert freiwillige Helfer, eine Woche lang rund um die Uhr, verteilt in zwei alpinen Nationalparks auf insgesamt 7 Basistationen und 43 Versorgungspunkte, sind die Eckpfeiler dieser auch organisatorischen Meisterleistung - alles selbstverständlich in höchstem Maße Natur und Umwelt schonend, wie auch respektierend!

Im Repertoire ist dabei auch einer der wohl dramatischsten Bergpässe, der legendäre Col Malatra. Schräg gezackte, gewaltige Felstürme bilden hier auf 2.936 Metern Höhe eine kurze, schulterbreite Schlucht, nach deren Passage sich ein atemberaubendes Panorama auf das im Lichte der Nachmittagssonne badende Montblanc-Massiv bietet. Von hier heißt es dann nur mehr Abseilen ins große Tal der Emotionen. Zurück zum Ausgangspunkt. Nach Courmayeur, dem „große Herzen“ des Valle d’ Aosta:

Nach 125 Stunden und 47 Minuten sind der gleich am Beginn des Trails als verlässlicher Freund gewonnene „Synchronläufer“ Uwe Hermann aus Tübingen und ich voll in Emphase. Es endet dramatisch: „Echte Männer weinen nicht“ – viel bewegter kann es nicht zugehen. Der Wahnsinn der Tour verblasst am Wegesrand. Selten war Pathos unpeinlicher als hier. 
Grandioser Trail!

Am Ende werden es 300 Läufer (24 davon Frauen) sein, die innerhalb des 150 Stunden-Zeitlimits das Ziel erreichen. Dank, Respekt und Gratulation an dieser Stelle auch an meinen oberösterreichischen Freund und Trainingspartner Robert Riesinger, ohne den dieses „Projekt“ wohl nicht gelungen wäre. Robert hat mit 116 Stunden und 31 Minuten eine schier unglaublich fulminante Zeit bei seinem ersten Ultratrail hingelegt.

Dominik Aichinger, Läufer (und Architekt)

Oktober 2011

Einige Impressionen in Bilder gefasst - und noch ein paar mehr.
Eigene Bilder.

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