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La Diagonale des Fous

Cap Mechant. 21.Oktober 2010, 21:55 Uhr. Zweitausendfünfhundert Verrückte in kurzen Hosen und kleinen Lämpchen auf der Stirn zappeln nervös im Staub. Eine junge kreolischen Band hantelt sich an falschen Riffs entlang. Ein Martyrium. Nach dem zweiten Startschussversuch ist es soweit: Bumm. Alle gleichzeitig durch das enge Gatter. Bei einer 163 km Strecke wohl das alles Entscheidende. Dann müssen sofort alle gleichzeitig alle überholen. Beim GrandPrix von Monaco ist das auch nicht einfacher.

Die Befürchtungen waren unbegründet: Nach zwei Stunden Überholmanöver setzt sich Gänsemarsch durch. Ein schmaler Pfad führt 2.300 Meter direttissima hinauf den Vulkan. Foc Foc heißt dieser Ort. Es regnet. Es ist kalt. Wahrscheinlich unter Null. My greatest fear before I die is to turn into a boring old fart. Also gebe ich Gas. Am Horizont spuckt der Vulkan Feuer in die Nacht.

Guten Morgen. Sesshafte Strelitzien säumen den gräsernen Weg. Kühe mit akutem Fernweh blicken auf den indischen Ozean. Mare a Boue. Endlich habe ich das Dreckloch erreicht. Acht Stunden Laufen ist immer noch besser als Traktorfahren. Ich bin dort angekommen, wo ich nie hinwollte: 113 Kilometer vor dem Ziel.

Es folgt die beherzte Ballade von den Härten des Lebens: Ein nasser Dschungelpfad. Mal rauf, mal runter. Dann vorzugsweise wieder rauf. Armdicke Wurzeln machen jeden Auftritt populär. Mannshohe Geländestufen legen das Ende der Laufkarriere nahe. Jetzt rasch ein Bein amputieren, damit das Drama an Würze gewänne? Nur kein falscher Pathos: Auch 21 Kilometer enden irgendwann. Hellbourg als Erlösung aus dem Inferno? Dieser kleine Highway to Hell endet hier. Vorläufig. Meine Startnummer 666 mutiert endgültig zum Prunkstück.

Der Priel ist des oberösterreichischen Bergläufers Universität. Tausendsechshundert Höhenmeter können aber auch anders aussehen. Alte Werte feiern hilft da nichts. Nach Cap Anglais ist es ein böser, steiler Anstieg. Eine vertikale Felswand, harmlos begrünt. Schlagkräftige Laufkollegen intonieren hier am Wegesrand jämmerlich den „Dog House Blues“. Herzinfarkt, Hyperventilation im Refrain. Alle in einem Alter, in dem andere Golf zu spielen beginnen. Dank unsteten Lebenswandels war mir das bislang erspart geblieben: „I Started out with Nothin' And I Still Got Most of It Left“ hilft mir den in dieser Situation erschreckenden Mangel an alten Werten dann doch noch zu überwinden.

18 Stunden. Cilaos. Midway. Life is hard, right? Tränen spritzen. So nahe war der Traum. Die Gefahr diesen Notausgang zu nehmen ist groß. Doch es gibt kein Rückfahrticket aus dem Alptraum. Also voll den Finger in die Wunde: Statt auf ewig im unverbindlichen Zweifel zu verweilen, abseilen ins Feuer der großen Emotionen. Übermotiviert greife ich in meinem Bemühen, meine juvenile Kraft zu aktivieren, derart hart ans Brautwerkzeug, als gäbe es kein Morgen. Die beste Ablenkung bei mangelnder Spannkraft wirkt. Der Verwesungsprozess ist gestoppt!

Die zweite Nacht.Have no fear! It's an adventure and it’s just a wonderful experience of escapism! Im Cirque de Mafate ist der Notausgang allerdings weit weg. In fast jedem Läufer sieht man nun, wie sehr Zeit und Weg die dürren Körper heimgesucht haben. Ich selbst wirke mittlerweile wie ein wild zusammenmontierter Prototyp aus dem Klischeehandbuch für Tunichtgute: fettes, langes Haar, eine millimeterdünne unrasierte Zuhälterrotzbremse. Dazu eine Garderobe wie aus der Operettenbühne Mörbisch entwendet: Weiße Kompressionsstrümpfe, geschmacksfreies Laufhöschen, Robin-Hood-Leiberl und Pinocchiokappe.

Roche Plate. Das nicht gerade gemütsaufhellende Ambiente dieser nächtlichen Rotkreuzstation wird gleich zu Beginn mit einem schwer gestürzten Läufer rot eingefärbt. Blasse Schmerzensmänner mit veritablen Augenringen erinnern, dass die Wohlfühltapete nun endgültig ausgedient hat. Die Ersten lagerten bereits bei Anbruch der Nacht, die Härtesten liegen am Betonboden vor dem Lazarett. Ins milde Vollmondlicht dieser Nacht werden jetzt kunstvoll bandagierte Kniegelenke, in blanke Alufolie eingewickelte Laufmumien und jede Menge herber Voodooklänge ausgetragen. Leicht paranoide Angst-Apologeten versprechen krisenbedingt neue Gedanken zum Lieblingsthema „Furcht“.Vor allem für jene, die erstmals eingestiegen sind in dieses inferiore Universum, wo Phobien die Fixsterne sind und Ängste die Sonnenwinde.

La Breche ist eine gewaltige Schlucht. Die Abwesenheit belebenden Lichts währt jetzt schon lange. Halluzinationen als letzte Zugabe dieser Nacht. Die bedauerlicherweise nahezu unerforschte Folge dieses berüchtigten Nichtschlafeffekts ist, dass die Orientierung immer diffiziler wird. In der Tramway kann man zumindest gegen die Fahrtrichtung sitzen, um, wenn man sich vorwärts bewegt, auch zurückschauen zu können. Inhärente Zweifel an dieser Metaphysik zwingen zur Frage, was denn fürs Pumperl überhaupt noch pumpenswert ist in diesem Jammertal. Zweifel und Verzweiflung gehören eben seit je zu den Grundfesten des verrückten Dauerläufers.

Mit den ersten Sonnenstrahlen fühle ich mich wieder so gefährlich wie eine Raubkatze vor dem finalen Gurgelbiss. Devot hält mir das 1.000 Meter hohe Cap Noir seine Kehle hin. Ich starte die Flucht aus dem Riviere des Galets. Doch es ist ein Aufbruch in neue Uferlosigkeit. Gut, dass man als Ultra-marathonläufer keinen Nerv für derartige Subtilitäten hat. Man muss nur auf den Zeiger hauen, wenn die Etappenzeitnehmung Verspätung attestiert. Schließlich ist man auf Pünktlichkeit konditioniert.

Die kreolische Variante der Via Dolorosa ist der Chemin des Anglais. Der historische Kutschenweg ist ungefähr 3 Meter breit, 9 Kilometer lang, 35 Grad heiß, steil wie eine Wand und mit quadratisch gehauenen Basaltsteinen gepflastert. Im kargen Ravine Malheur gibt es mehr als die Alternative zwischen „burn out“ und „fade away“, vor die uns Neil Young einst in „Hey, Hey, My, My“ stellte: Auf Beharrungsvermögen kommt es an. Das demonstriere ich seit über 40 Jahren. So lange belebe ich das Gefühl des letzten Schultags. So lange feiere ich den Aufbruch in die Uferlosigkeit.

Letzter Aufstieg nach La Fenetre. Ich heize die Lok ein letztes Mal an. Wie in einem rasanten Zeichen-trickfilm rast der Zug nun über enge Dschungelpfade bergab ins Ziel nach St. Denis. Wie ein ewig Post-pubertärer reite ich im ärmellosen Finisher-T-Shirt nach 40 Stunden und 57 Minuten im Ziel des Grand Raid ein.Da war dann der bebrillte Herr, der sich um meinen Laufchip bemühte. Oder die reife Dame, die ihre imposante Oberweite in Richtung Laufhelden ausschwingen ließ. Ihr tapfer lächelnder Begleiter, der schon längst ob der ungeheuren Lautstärke im Stadion resigniert hatte. Und selbstverständlich gefiel es diesem angejahrten Jimi-Hendrix-Lookalike, der da die Soli seines Helden luftgitarrenmäßig nachstellte.

Meinen überirdisch herzlichen Laufkameraden Robert Steinbauer und Christoph Harreither hatte ich es aber zu verdanken, das Scheitern zu verhindern: Zur Besänftigung meines adrenalingeladenen inneren Wüterichs ließen sie ihre Zungen stets beredt flattern. Wie einfach doch alles sein kann! Müdigkeit trifft jetzt auf Herzlichkeit, und übrig bleibt nichts als wohliges Geschnurre. Ein würdiges Schlussbild für ein Spektakel, das zeigte, dass so ein Höllenritt auch ein G'spaß ist.

Dominik Aichinger, Architekt und Läufer
November 2010