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100km Biel: Der Lauf

Bericht von Robert Steinbauer: Die lange Nacht von Biel 2008 - 100 km

Ich reise am 13.6.2008 am Vormittag mit dem Zug an. Abfahrt 9:30 in Wels. Knapp nach der Grenze haben wir einen Triebwagenschaden, wir stehen ca. 1 Stunde und müssen schließlich in einen Ersatzzug umsteigen. Der Anschluss in Zürich ist inzwischen weg. Ich bin ein wenig besorgt, ob sich dass alles bis 21:00 (= Ende der Startnummernausgabe ausgeht). Während der Fahrt versuche ich laufend zu trinken (ca. 3.5 Liter) und essen (Müsliriegel) - was vielleicht nicht ganz so günstig ist, wie sich einige Stunden später herausstellen wird …

Ich treffe dann um ca. 20:00 im Startbereich ein - also noch Zeit genug. Es ist überraschend kühl, so beschließe ich, etwas Langärmeliges anzuziehen.

22:00 Start: Es sind extrem viele Läufer am Start (über 4000 in den diversen Bewerben; alleine ca. 2500 über die 100km), sodass man erst nach 2-3 Minuten zur Startlinie und eine weitere Minute später zum Laufen kommt. Leider gilt aber der Startschuss auch als Beginn jeder persönlichen Zeitnehmung. Km 1: ca. 9:30 Minuten - Sollzeit 6 Minuten! Ich reiße mich zusammen und zwinge mich, meinem Grundsatz treu zu bleiben und diszipliniert langsam zu bleiben. Bei KM 6.5 kommt der erste Anstieg - fast 2 KM und ziemlich steil. Theresa Kienberger (sie ist in Biel bereits gelaufen) hat mir gesagt, unbedingt ab der Hälfte zu gehen, auch wenn das schwer fällt und man laufend überholt wird. Ich halte mich daran, aber der Rückstand auf die geplante Sollzeit wird immer größer (zu diesem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, dass noch eine ganze Reihe von solchen Steilstücken kommen wird - manche durchaus noch steiler und länger!).

KM 10: erste Verpflegungsstation, super ausgestattet: Getränke + Brot, Bananen. Dann geht’s ca. 12 km eben dahin. Sicht ist ausreichend, meist Asphalt, teilweise Schotter (etwas uneben - ein keiner Vorgeschmack, was noch so alles auf uns wartet ;-). Ich laufe konstant einen Schnitt von 10.5 - 11 km/h.

KM 26.5: erste Verpflegungsstation mit Sportnahrung. Ich stopfe (wahrscheinlich ein wenig zu forsch) die unterschiedlichen Müsliriegel, Gel, Banane, Brot in mich hinein. Es geht mir sehr gut. Es ist ca. 0:30 und ich kann laufend Läufer vor mir überholen.

KM 38.5 - 01:45: Erste offizielle Zeitnehmung (Zeit und Platzierung erfahren wir allerdings erst nach dem Rennen im Ziel): 3:45.14 (584. Gesamtrang / 139. Klassenrang M40), bisheriger Schnitt: 10,26 km/h - alles OK, Rückstand vom Anfang aufgeholt.

KM 41 - 45: permanenter Anstieg, teilweise unebener Untergrund (Schotter). An den extremen Steilstücken gehe ich diszipliniert (obwohl der Kopf immer wieder zum Laufen überreden will!). Es macht immer wieder Spaß, wenn man nach den Gehphasen wieder zum Laufen beginnt und die Dauer-Bergaufläufer dann mit Leichtigkeit wieder zurück-überholen und auch “stehen lassen” zu können. Alles super, ich bin voll motiviert.
Doch dann geht’s plötzlich sehr schnell - das unbestechliches Schicksal überrascht mich mit einem Doppelschlag: zuerst zwingt mich ein plötzlich verstimmter Magen (kombiniert mit einem starken Stuhldrang) in die Büsche - ich habe zum Glück einige Taschentücher mitgenommen. Zum Glück weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass dass mich dieses Gefühl (zwar mit unterschiedlicher Intensität) bis zum Ziel nicht mehr verlassen wird und mir noch mehrerer solcher “Unterbrechungen” bevorstehen. Kaum bin ich zurück auf der Strecke, spüre ich innerhalb wenigen 100 Meter denselben stechenden Schmerz im rechten Sprunggelenk, wie ich ihn bei meinen letzten Trainingsläufen (vor 5 bzw. 12 Tagen) gespürt habe und der mich jedesmal zum Gehen gezwungen hat. Die letzten Bergauf-KM waren ziemlich uneben, vielleicht hat hat auch das eine auslösende Mitschuld.

KM 45 - Verpflegungsstation, ca. 2:30: Das Rennen scheint zu Ende! Der Schmerz wird mit jedem Schritt schlimmer - stechend und gnadenlos. Ich kann keinen Schritt mehr laufen. Ich ziehe den rechten Schuh aus und humple ein paar Schritte dahin. Meine Aussichten sind ziemlich hoffnungslos: ich kann entweder bis KM 56 gehen (= 2. offizieller Kontrollpunkt mit Rückfahrgelegenheit zum Ziel) oder versuchen, den Lauf irgendwie gehend zu beenden. Das hieße aber: 5km/h Schnitt, 65 km ==> 13 Stunden, keine Chance, da ich um spätestens 12:00 zur Rückfahrt am Bieler Bahnhof sein muss. Eine Welt bricht zusammen. Auf einmal möchte ich nur Laufen, nur den Lauf irgendwie beenden. Meinetwegen mit Schmerzen und Leiden - wenn es nur Schmerzen sind, denen man irgendwie begegnen kann. Die letzten Schritte waren aber so schlimm, dass keinerlei “Gegenwehr” möglich zu sein scheinen.
Ich ziehe also meinen Schuh wieder an und humple weiter. Ich finde mich langsam mit der Situation ab - noch 11km und dann Rückfahrt ins Ziel. Beim Gehen sind die Schmerzen durchaus erträglich. Ich beginne zu leicht traben (damit die 11 km nicht ganz so furchtbar werden). Und siehe da: es tut zwar weh, aber nicht wesentlich mehr als beim Gehen. Ich rechne fieberhaft: 6 km/h Schnitt ==> noch 9 Stunden bis zum Ziel, 8 km/h ==> knappe 7 Stunden (das könnte sich mit dem Zug noch ausgehen!). Mit jedem Schritt, den ich ertragen kann, werde ich plötzlich wieder stärker. Ich kann völlig unerwartet mein Tempo wieder steigern, zwar nur ganz langsam aber stetig. Plötzlich bemerke ich, dass ich einen vor mir liegenden Läufer überholen kann und auf einmal ist der Bann gebrochen. Ich empfinde nur mehr Dankbarkeit und werde plötzlich ganz stark im Kopf.
Die ganze Sache hat mir zwar ca. 15-20 Minuten gekostet, das spielt aber momentan gar keine Rolle. Ich laufe, ich überhole, ich bin glücklich …

KM 56 - 2. Kontrollpunkt, ca. 3:40: Der rechte Fuß ist OK. Durch das vorsichtige (und dadurch wahrscheinlich verkrampfte Laufen) tun mir aber viele andere Stellen an den Beinen weh - aber (glückliche Ironie des Schicksals) alle diese “Wehwehs” motivieren mich eher, solange nur das rechte Sprunggelenk nicht dabei ist. Ich bin mir nämlich ziemlich sicher, das mich diese ”neuen” Sachen nicht aus der Bahn werfen können.
Ich suche eine Toilette, die ich nach einigen Minuten auch finde. Allerdings warten zu viele Leute davor. Ich muss unverrichteter Dinge wieder abziehen.
Offizielle Zeitnehmung: 5:40, (527. Gesamtrang / 134. Klassenrang M40), bisheriger Schnitt: 9,9 km/h [unter Berücksichtigung der verlorenen ca. 20 Min. durchaus OK!]

KM 56 - 65: Der gefürchtete Ho-Che-Minh-Pfad: Steine, Wurzeln, finster. Ohne Stirnlampe kann kein Schritt gelaufen werden. Man bewegt sich wie auf Eiern - sehr anstrengend. Mir geht es aber gut - ich laufe ständig auf Läufer auf, die ich auch überholen kann [anbetracht der Enge des Pfades und des unebenen Untergrund ist das aber jedesmal ein besonderes Wagnis].
Nach dem Pfad wird es langsam hell. Dann folgen wieder einige Bergaufstücke. Auch ein “Boxenstop” zwecks Darmentleerung muss eingelegt werden …

KM 76.6, ca. 5:50: letzter Kontrollpunkt mit Zeitnehmung: 7:47, (383. Gesamtrang / 100. Klassenrang M40), bisheriger Schnitt: 9,84 km/h.

KM 78: letzter längerer Anstieg. Danach geht’s mehr als 3 km steil bergab. Keine wirkliche Erholung, da bei jedem Schritt die Oberschenkel gewaltig schmerzen. Das macht mir aber alles nichts aus, ich “schwebe” eher dahin. Ich kann den Lauf mit allen seinen inzwischen aufgetretenen Schmerzen durchaus “genießen” - ich bin immer noch dankbar, dass es für mich den Lauf noch gibt, und: ich bin immer noch stark im Kopf. Obwohl: es sind alle 5 km ausgewiesen, und die 5-km Etappen ziehen sich mittlerweile gewaltig in die Länge. Kopfarbeit ist hier von entscheidender Bedeutung!

KM 88: Ich bleibe bei einer Verpflegungsstation wahrscheinlich eine Spur zu lange stehen. Als ich wieder weiterlaufen will, ist der Rhythmus total weg - statt dessen tut das linke Knie unangenehm weh. Die nächsten 7 km sind nun wirklich so, wie man sich das nach 90 km so vorstellt. Es spielt sich nun sehr viel im Kopf ab. Ich denke zwar nicht mehr wirklich ans Aufgeben, erlebe aber nun durchaus deutlich meinen Teil des “Bieler Leidens”.

KM 94: vorletzte Verpflegungsstation. Ich bin immer noch ziemlich groggy, kann meinen Rhythmus noch immer nicht zurückfinden. Ab KM 95 sind alle Kilometer wieder ausgewiesen. Das hilft mir seltsamerweise, wieder einigermaßen in den Rhythmus zurückzufinden.

KM 97: Immer noch keine Erleichterung - immer noch 3 endlos lange Kilometer. Die Formel 97 zu 3 hilft noch nicht wirklich weiter, wirkt eher zynisch auf mich: Nur weil man 97 km gelaufen ist, sind die folgenden 3 deswegen nicht leichter - ganz im Gegenteil!!!

KM 98: Endlich greift die Vernunft wieder: Nur noch 2 km.

KM 99: Man scheint wieder zu “fliegen”.

KM 100, 08:11: nach fast 700 Höhenmeter ist es endlich geschafft: 10:11 (339. Gesamtrang / 86. Klassenrang M40), bisheriger Schnitt: 9,82 km/h.

Ohne die Probleme mit dem Fuß und dem Durchfall wären die 10h sicher drin gewesen. Ich bin erleichtert und glücklich. Die “Lange Nacht von Biel” ist zu Ende!

Danach: Duschen, Umziehen, zurück zum Zug und Heimreise. Jeder Schritt tut in den ersten Stunden nach dem Lauf weh, jede Bewegung ist extrem mühsam. Demütig wird einem bewusst, wie gut es einem unter normalen Umständen geht und wir herausfordernd ein Leben mit 80 oder 90 Jahren sein wird (genauso fühlt man sich nämlich).

21:30: Ich treffe in Wels ein. Es geht mir inzwischen relativ gut.
So. 15.6., 22:00: Ich denke bereits an das nächste Projekt: Marathon de Sables, April 2009 - Wüstenmarathon, 243 km!